…samt einem Slam von ihr.
Die Hausaufgaben fürs Wochenende: Repetieren Sie die Konstruktionen «gefällt mir», «schmeckt mir», «steht mir», «passt mir», S. 157 / 158 im Buch.
Lorenz, Deutschlehrer für Fremdsprachige, wünscht ein schönes Wochenende, schaltet den Beamer aus und freut sich auf Nelly. Heute zum ersten Mal am GWHF-Treff!
17.11 Uhr fährt der Regionalzug ab Olten, den Lorenz jeden Abend nimmt, bis vor seine Haustür fährt der, doch heute steigt Lorenz früher aus, in Wangen a. A.
Aha, aha: auf einem Bänklein vor dem Bahnhof sichtet er bereits eine TV-Schwester. Will offenbar noch ein bisschen alleine sein, spazieren und sich geniessen – ha Di scho gseh!
Mit dem ratternden Rollkoffer geht’s durchs Altstädtchen, über die Holzbrücke und unter dem Autobahnzubringer hindurch. Dabei stell ich mir, in meiner unendlichen Selbstüberschätzung, vor, dass die Leute von Wangen sehr wohl wissen, was es läutet, wenn zu Beginn des Monats wieder die Rollkoffer rattern. Tourist*innen sind das nicht …
Im «Al Ponte», auf Zimmer 8 dann, ist schon eine Schwester, die noch halb Bruder ist, am sich Verwandeln. Ich liebe diesen Blick hinter die Kulissen und muss mich zurückhalten, dass ich ihre Verwandlung nicht ständig begeistert kommentiere. Ich darf ihr mit dem Reissverschluss im Nacken helfen und bei der Auswahl der Schuh-Farbe. Wir kennen uns von «Travesta», aber so richtig erkennen tut sie mich erst, als ich die Perücke aufsetze.
Diese Perücke finde ich sexy, weil mir ständig Locken ins Gesicht fallen, sie wird mich aber den ganzen Abend lang beschäftigen, genau wie mein Schulter-Décolleté. Das Gefühl, dass ständig etwas an mir am Verrutschen ist …
Und dann, wow, das Geräusch meiner Schuhe und das Flattern der Hose, wie ich ausschreite durchs Hotel – und da sitzen sie auch schon, all die bunten Wesen, die Verzauberten, Königinnen, Prinzessinnen, Self-Made-Women, Ladies, Heldinnen der Identität – und jede hat einen Namen, den man sich merken sollte.
Dass ich hier in diesem Bericht keine Namen nenne, ist ein Prinzip, das ich mir in meiner künstlichen Heimat «Travesta» zurechtgelegt habe. Ich verstehe jede von Euch als ein Geheimnis.
Und dann sitze ich Madame Visage gegenüber, und die Abendsonne fällt mir voll ins Gesicht – Achtung, Blamage! Wie war schon mal das Wort: «Tageslichttauglich.» Madame findet mich aber «ein gutes Mädchen», ich beginne fluchtartig zu blödeln und ihr gefällt das: «Hej, Du bist ja echt spielerisch drauf!»
Wart’s nur ab, Madame Visage, gleich kommt …
mi vor:
Ich bi d’Nelly.
E-n-Artifizielli!
E Bi-, Tri-, Trans-, Trul-lala-Kulturelli!
Doch au e Reelli.
Und sicher au e Rebelli-
-schi! – Und sicher kei Perfektuelli.
Bin halt e-n-experimentelli Nelly.
Bin e pBaschtleti, aber kei Belaschteti.
D’Nelly läbt uf ere Bouschtell, und weiss: s Läbe, das het es Gfäll.
Und ich fall, wenn Du mir gfallsch, Dir au gern mit de Tür i s Huus!
Doch kei Angscht: Bin e kei Krimi-Nelly.
Bin im Alltag dusse, Dütschlehr-Er, für Usländer-Inne.
De Dütschlehr-Er aber isch ganz ohni –inne – bin nid g’outet.
Ehnder Astronaut-In, bin- i, wiit dusse vom Alltag, im All vo de Gschlächter.
[…]
Ich bin gebore
Us em Schuum
vom Traveschta See.
„Am Traveschta-See / Ha-n-i di s’erschte Mol gseh – …“
De Schuum isch en Wörter-Schuum, und ich bin e Sexpliziti, wenn ich schwümm i dem See – … … – doch es sind jo nur Wörter – oder? – und es bitzeli Bilder, wo mir eus mached.
Und d’Frog isch jo dert: Was begehr i, was bliibt mir verwehrt?
Und wenn verwehr ich, – grad umgekehrt -, de oder die, wo mich begehrt?
[…]
Bin nid Dev. Bin nid Chef. Han Reschpäkt vor allem, wo Liide schafft. Bin e-n-Empathischi, säit me. Doch, Achtung, bin au e Dramatischi – Bin aber kei Quäli-Nelly.
Bin i de Seel e Helli,
fall nach em Tod nid i d’Höll,
bin u de Suech nach em Quell,
wo halt villicht kein „Lui“ isch, sondern e-n-„Elle“.
[…]
Am Aafang sind’s Heels gsi,
doch plötzli sind’s Gfühl gsi.
D Schlange vom Paradies het mi i s Ferseli pbisse, und ganz süess schüsst jetzt s Gift vo de Füess,
i mir uuf, und über mich use,
bis durt d’Decki schüsst das Gift,
wie-n-en Lift, ganz höch in Himmel fahrt das, i s All, zwüsched all
Eu
wunderbari
Gender-Sternli.
[…]
Ich chumm jo eigentlich vom Theater
und wächsle gern d’Chleider, d’Hoorfarb, d’Bruschtgrössi und d’Art vom Orgasmus, bin jedes Mol wieder neu – und bliib mer grad do demit treu.
D Wält isch e Bühni und das mit Adam und Eva und mit de Schlange-n-es Spiel. Und d’Ängel flüget, und chönnd nid falle.
Und s Chätzli het Chralle.
[…]
E Schwöschter het mer mol gseit, wo-n-i plötzli Angscht vor mir übercho han:
Lo di nur vo niemertem ine zieh.
Zieh … – Zoge-n-am Boge … – Und unterdesse ha-n-i mi so erzoge, dass i ganz sälber gumpe-n-, …
… – in See – …
vo de Wörter, de Ängscht, und de Gschpängscht, und de Glüscht, und de Sexplizitheite, und de fehlende Brüscht …
[…]
Wenn d’Wörter zäme flüget und vöglet und Liebi machet,
bis es krachet, denn lachet d’Nelly:
D Grammatik isch für sie au Erotik,
und ihri Wörter tüend flirte und surfe, uf em Traveschta-See.
[…]
s isch mer alles ei Ding,
öb i lach oder sing!
Ha-n-es Herzeli wie-n-es Vögeli, durum liebe-n-i so ring.
[…]
Und au ich möcht flüüge, hüt zobig,
und hüpfe-n-und wandere
Vo dr eint zur Andere,
und eu bewundere
[…]
Let’s do
some L-B-G-T-Q-Barbecue!
Barbie. Oh, Barbie.
Barbie Q, I love you.
The way you walk, the way you talk,
I’m so irresistably shocked – let’s rock!
[…]
Und wenn Ihr jetzt froget, was die Nelly verzelli, was si welli, de säg i: Ich will eu gfalle.
S muess aber, natürli, nid sii.
S Läbe-n-isch jo au so
schnell verbii.
Applaus.
Danke.
Das war unerwartet, ich weiss.
«Unbekannte Gesellschaft», hab ich gesagt, doch eigentlich ist zu fragen, was für eine Gesellschaft denn meine künstliche Heimat «Travesta» ist – und ob GWHF nicht eine realere Heimat werden könnte.
Oh, je, und jetzt müsste frau auch noch Hunger haben – …
…- jo, was bschtelli, so als Nelly? – Dieses Kokos-Zitronengras-Süppchen mit Crevetten wird’s wohl tun.
Und diese sexy Perücken-Locken im Gesicht machen es nicht einfach, Suppe zu löffeln, werde wohl bei «Wish» noch ein paar Haarspängeli bestellen. Madame Visage zeigt mir, wie ich die Locken hinter die Ohren streichen kann, ohne dass gleich die Perückennaht sichtbar wird.
Eineinhalb Stunden später, als dann endlich der Hunger kommt, mach ich den Fehler, noch einen Bananen-Split einzuwerfen. Dem wird die teuerste Bestellung folgen, ein Grappa, zum Verdauen.
Kurz später dann draussen, bei den Raucher*innen in der wunderbar sinnlichen Abendluft: Wir besichtigen die heteronormative Schweizer Gesellschaft, die an den Tischchen sitzt, und die, ganz diskret, auch uns besichtigt. («Hampi! Lueg jetzt wider do ane!»)
Fast mit allen hab ich geredet, ausser mit einer, die mir abweisend schien, und zurückgezogen – doch genau die sorgt heute Abend noch für eine Überraschung: Kommt, als ich mich verabschiede, mit so einem warmen Kompliment auf mich zu, dass mir das Herzchen hüpft.
Eine freundliche ältere Schwester, die Weltmeisterin im Erzählen von Witzen ist und in derselben Region wohnt, chauffiert mich nach Hause, und kurz stelle ich mir vor, dass wir auf der Autobahn in eine Auffahr-Kollision geraten und, so phantastisch aufgemacht wie wir sind, in der Notfall- Aufnahme landen …
Aber nein, sie bringt mich heil vor die Haustür: Und jetzt steht Nelly das erste Mal vor ihrem eigenen Haus. Kommt das erste Mal zu sich nach Hause. Willkommen.
Ich schaue in den Spiegel, und ich finde mich – … – ja!
«Gefällt mir». «Schmeckt mir.» Und ich glaube, mein ständig verrutschendes Outfit stand mir. Und diese neue, reale Gesellschaft: Passt mir.
Nelly